BERLIN

Das nackte Brandenburger Tor

Verhinderter Ort der Weltgeschichte

Der Lichthof des Zeughauses in Berlin während des II. Weltkrieges. An einem warmen Frühlingstag des Jahres 1943 wäre das Erdgeschoss des Berliner Zeughauses um Haaresbreite zu einem der berühmtesten Schauplätze der Weltgeschichte geworden. Die vormalige preußische Waffenkammer diente unter den Nationalsozialisten ab 1933 als Heeresmuseum, in dessen Lichthof Hitler alljährlich eine Rede zum deutschen Heldengedenktag hielt.
Für den braunen Volksfeiertag des Jahres 1943 hatte eine Gruppe aus Offizieren der Wehrmacht die Ermordung des Diktators geplant. "Es ist die einzige Möglichkeit", so Henning von Tresckow zu Oberstleutnant von Gersdorff, "Deutschland vor dem Untergang zu retten. Die Welt muss von dem größten Verbrecher aller Zeiten befreit werden." Da Hitler in der Vergangenheit durch kuriose Umstände bereits einer Vielzahl von Attentatsversuchen entronnen war, gestalteten sich die Vorbereitungen der Verschwörer schwierig. Die Überlegungen erstreckten sich über die Frage nach dem richtigen Ort und Zeitpunkt bis hin zur Wahl der richtigen Tatwaffe, zumal Hitler stets von seinen SS-Leibwachen umgeben war. Einfach mit einer Pistole auf den "Führer" zu schießen, trug das unkalkulierbare Risiko in sich, dass das Opfer einen solchen Anschlag überleben konnte. Aus diesem Grund entschieden sich die Offiziere für zwei britische "Clam"-Haftminen. Die Frage, wie diese zur Detonation gebracht werden sollten, stellte ein ernsthaftes Problem dar: Die zugehörigen Zünder tickten zu laut. Da die geräuschlosen deutschen Zünder nicht mit den Sprengkörpern kompatibel waren, montierten die Attentäter englische Säurezünder.
Als Mörder des Tyrannen wählte die Verschwörergruppe den 38-jährigen Oberstleutnant Rudolf-Christoph Freiherr von Gersdorff. Der spätere Ritterkreuzträger hatte, da sich seine Frau im Winter 1942 das Leben genommen hatte, nichts zu verlieren. Mit erheblichen Schwierigkeiten organisierten die Attentäter die Teilnahme Gersdorffs am deutschen Heldengedenktag. Das offizielle Programm sah vor, dass Hitler nach einem klassischen Konzert seine Rede halten würde, die je nach dessen Laune zwischen ein paar Minuten und zwei Stunden dauern konnte. Anschließend sollte er im Zeughaus die Sonderausstellung "Kampf in Zentralrussland" eröffnen. Genau dann, so der Plan, sollte das Attentat stattfinden – hier konnte Gersdorff dem "Führer" körperlich so nahe kommen, dass die detonierende Bombe mit Sicherheit tödlich sein musste. Tödlich für Hitler, aber auch für den Oberstleutnant selbst. Der Heldengedenktag des Jahres 1943 versprach, zumindest einen echten Helden hervorzubringen.

Hitler und Napoleons Adler

"Ich habe in dieser Nacht" berichtete Gersdorff, "kein Auge zugemacht und hatte ähnliche Empfindungen wie ein Verurteilter in der Todeszelle in der Nacht vor seiner Hinrichtung." Tatsächlich war es genau das, was auf den mutigen Offizier zu warten schien.
In Berlin brach am 21. März schlagartig der Frühling aus, die Sonne strahlte vom wolkenlosen Himmel. Die Berliner murmelten etwas von "Führerwetter" und um 11 Uhr hatten sie sich zu Zehntausenden rund um das abgesperrte Zeughaus versammelt, um einen Blick auf den Diktator zu erhaschen. Da Hitler die Gewohnheit hatte, lange zu schlafen, ließ seine Ankunft auf sich warten. Erst kurz vor 13 Uhr traf das Führer­ begleitkommando mit dem schwarzen Mercedes-Benz-Cabrio am Zeughaus ein. Es war sein erster öffentlicher Auftritt nach der Katastrophe von Stalingrad, über die es im letzten Flugblatt der Widerstandsbewegung "Weiße Rose" geheißen hatte: "Beresina und Stalingrad flammen im ­Osten auf, die Toten von Stalingrad beschwören uns!" Gefolgt von seiner Entourage betrat Hitler das Zeughaus, wo im Lichthof der nationale Feiertag mit einem Konzert eingeleitet wurde.

Ich gehe am Kassenbereich des Museums vorbei, um in den Hof zu gelangen. Durch das neomoderne Glasdach ist der Innenhof heute nahezu schalldicht isoliert, jedes Geräusch scheint wie durch Watte zu dringen. An allen vier Wandfronten sind über den hohen Fenstern im Erdgeschoss als Fresken die "Köpfe sterbender Krieger" zu sehen, in deren Antlitz in bizarrem Ausdruck der Todeskampf dargestellt ist. Obwohl die große Freitreppe, unter der Hitler sprach, im Zweiten Weltkrieg zerstört wurde, sind diese Reliefs der sterbenden Krieger dieselben wie 1943.

Eingerahmt von diesen 22 makabren Köpfen oberhalb der Rundbogenfenster erklang der erste Satz von Anton Bruckners 7. Sinfonie, deren Melodie um Haaresbreite zu Hitlers Totenmesse geworden wäre.
Hatten Hitler, Himmler und Göring, an deren Händen das Blut von Millionen klebte, wirklich hier gesessen? Und saß hier unweit von ihnen Freiherr von Gersdorff mit zwei scharfen Bomben in der Tasche seines Wehrmachtmantels, jener zum Tod entschlossene Offizier, der unter Aufopferung seines Lebens entschlossen war, dem unvorstellbaren Wahnsinn ein Ende zu setzen?
Nachdem die Musik des Philharmonischen Orchesters verstummt war, ging der "Führer" in seinem schwarzen Ledermantel zum Rednerpult, welches vor der imposanten Freitreppe stand, über der ein mächtiges Eisernes Kreuz prangte. Dort sprach er zwölf Minuten lang von der "sata­nischen Zerstörungswut" der Russen, während im selben Augenblick 600 Kilometer weiter südöstlich in Auschwitz die nackten Leichen Tausender Vergaster in einem neuen Krematorium verbrannt wurden.
Als nach der Rede um 13.10 Uhr wie üblich der Applaus toste und alle Blicke ehrfürchtig auf den Redner gerichtet waren, war Gersdorff zum Eingang des Ausstellungbereiches gegangen, der sich wahrscheinlich genau dort befand, wo heute die Treppe in den ersten Stock des Museums führt. "Es dauerte jedoch noch eine ganze Weile", erinnerte sich Gersdorff, "bis Hitler erschien. Neben ihm ging Göring, der in seinen weißen Saffianstiefeln den Eindruck eines Operettenfürsten machte; zudem war er auf grotesk auffallende Weise geschminkt." In der Tür wandte Hitler sich plötzlich um und bat Feldmarschall von Bock sich ihm anzuschließen. "Diesen Augenblick" so Gersdorff weiter, "als die Aufmerksamkeit aller auf Hitler (...) gerichtet war, benutzte ich, um den Zünder der in meiner linken Manteltasche steckenden 'Clam'-Haftmine zu betätigen. Die Zünder hatten eine umgebungstemperaturabhängige Reaktionszeit von 10 Minuten, im ungeheizten Zeughaus musste allerdings mit mindestens 12 und maximal 15 Minuten gerechnet werden."
"Dann", berichtete Gersdorff, "begann der Rundgang, wobei ich mich dicht an Hitlers linke Seite drängte." Der Weg führte einen geraden Gang entlang, der im Erdgeschoss links neben dem Haupteingangsportal parallel zur Fensterfront verlief. Zu beiden Seiten waren sowjetische Geschütze, Maschinengewehre und Granatwerfer zur Schau gestellt und am Ende des Ganges befand sich ein Ehrenmal für die in Stalingrad gefallenen Soldaten der 6. Armee. Während Gersdorff Hitler die Exponate erklärte, vollzogen in den Taschen seines Wehrmachtsmantels die Säurezünder lautlos eine chemische Reaktion. Die führenden Männer des Dritten Reiches erreichten das Stalingrad-Ehrenmal, wo – was sich nun als verhängnisvoll herausstellen sollte – außerdem ein Gegenstand aus dem Russlandfeldzug Napoleons von 1812 präsentiert war. Es handelte sich um den auf einem Podest äußerst wirkungsvoll zur Geltung gebrachten Adler einer Patronentasche vom westphälischen Korps Jérôme. "Als ich ihn auf einen napoleonischen Adler aufmerksam machte", berichtete Gersdorff über das Geschehen, "den deutsche Pioniere beim Brückenbau über die Beresina (1941) im Flussbett gefunden hatten, erhielt ich keine Antwort. Stattdessen ging – oder besser gesagt lief – Hitler auf kürzestem Weg in die Richtung des seitlichen Ausgangs."