Von Borodino aus geht die Fahrt in das 200 Kilometer südlich von Moskau gelegene Jasnaja Poljana, wo ich einen Termin mit Ekaterina Tolstaja habe. Sie ist die Frau von Tolstois Ururenkel, der Berater des Präsidenten der Russischen Föderation in Kulturfragen ist.
Eine steinalte Russin singt an der Türschwelle des strohgedeckten Kutscherhauses zur Begrüßung ein traditionelles Willkommenslied. Das Haus hat einen urigen Kachelofen mit Holzboden und bauchigen Reisetruhen. Auf dem Tisch dampfen frisch gebrühter Tee sowie liebevoll angerichtete, herrlich duftende Backwaren nach altem Familienrezept der Tolstois. Die hier wie fast überall in Russland anzutreffende Gastfreundschaft habe ich im Lauf dieser ganzen Reise nur bei den Augustinern auf dem Großen St. Bernhard so erlebt. Als wir am Tisch sitzen, frage ich Ekaterina Tolstaja, worin ihrer Meinung nach die Bedeutung von Krieg und Frieden für das hier und heute besteht. Nach einigem Nachdenken antwortet sie: "Die Bedeutung ist, dass es darum geht, den Frieden im hier und jetzt zu leben, den Frieden in sich zu haben. Alle Szenen in Krieg und Frieden sprechen diese Botschaft aus."
Bei aller sprachlichen Brillanz zeichnet Tolstoi darin ein vollkommen negatives Bild von Napoleon, das selbst von dem mit ihm befreundeten Turgenew als viel zu schwarz dargestellt kritisiert wurde. In "Krieg und Frieden" heißt es: "Seine [Napoleons] Taten standen in einem so krassen Gegensatz zu allem Guten und Wahren und von aller Menschlichkeit." Die patriotisch motivierte Charakterisierung von Napoleons Unmenschlichkeit hält allerdings den Quellen nicht stand, stellt man sie etwa folgendem Augenzeugenbericht eines französischen Adjutanten nach der Schlacht von Borodino gegenüber: "Unter der Menge von Leichnamen, über die man seinen Weg nehmen musste, um dem Kaiser zu folgen, war einer, der, von dem Hufschlag eines Pferdes getroffen, noch ein Zeichen des Lebens und des Schmerzes zu geben schien. Napoleon, bis dahin stumm wie sein Sieg und von dem Anblick so vieler Schlachtopfer schmerzlich ergriffen, brach aus und erleichterte sich durch ein Geschrei des Unwillens und durch viele Hilfeleistungen, die er an dem Unglücklichen versuchen ließ. Als ihm jemand, um ihn zu beruhigen, bemerken wollte, dass dieser nur ein Russe sei, erwiderte er mit Heftigkeit, dass es nach dem Sieg keinen Feind mehr, sondern nur noch Menschen gebe."
Auf dem Weg durch die alte Birkenallee von Jasnaja Poljana, über die Tolstoi so viele Male gegangen ist, erzählt die uns zur Seite gestellte Tolstoi-Expertin Galina Alekseeva, dass Buddha eines von Tolstois großen Vorbildern war. Tatsächlich weisen die Biographien der beiden Männer Parallelen auf. Im Arbeitszimmer Tolstois erläutert sie dessen spirituelle Sinnkrise, die auch der junge Prinz Siddhartha gehabt hatte, bevor er Buddha wurde. Zu diesem Zeitpunkt war Tolstoi ein weltberühmter Schriftsteller, hatte eine schöne Frau und Kinder, war Landbesitzer und durch seine Bücher märchenhaft reich geworden. Die Frage, die sich Tolstoi stellte, war, was all dies bedeutete, wenn es durch den Tod genommen werden würde. Er suchte daher nach etwas, das den Tod überdauert. Daraufhin entwickelte er seine drei religiösen Prinzipien der universellen Liebe, der Gewaltlosigkeit und der moralischen Selbstverwirklichung.
"Ein Blick auf die Welt", bemerke ich, "von der die Gegenwart weit entfernt ist." "Die Leute sollten Tolstoi lesen", entgegnet Galina Alekseeva. Die Expertin führt uns in jenes Zimmer, in dem Tolstois Leichnam 1910 aufgebahrt wurde. Mehrere Tausend Menschen waren hier am Sarg des großen Dichters vorübergeschritten, um ihm die letzte Ehre zu erweisen.
Schließlich machen wir uns auf den Weg zu Tolstois Grab in einem nahe gelegenen Wald. Auch hier hat die Wehrmacht, so Frau Alekseeva, ihre Spuren hinterlassen, die heute nicht mehr sichtbar sind. Auf dem Weg über die alte Birkenallee erklärt die Tolstoi-Expertin, dass während der sechswöchigen Besetzung durch Guderian die Deutschen mehrere Dutzend ihrer Gefallenen unmittelbar um das Grab Tolstois herum begruben. Sie erzählt außerdem, dass Stefan Zweig bei seinem Besuch 1928 Tolstois letzte Ruhestätte als das poetischste Grab der Welt bezeichnet habe. In "Die Welt von Gestern" schreibt er: "Denn nichts Großartigeres, nichts Ergreifenderes habe ich in Russland gesehen als Tolstois Grab. Abseits und allein liegt dieser erlauchte Pilgerort, eingebettet im Wald. Ein schmaler Fußpfad führt hin zu diesem Hügel, der nichts ist als ein gehäuftes Rechteck Erde, von niemandem bewacht, von niemandem gehütet, nur von ein paar großen Bäumen beschattet. Diese hochragenden Bäume hat, so erzählte mir seine Enkelin vor dem Grab, Leo Tolstoi selbst gepflanzt. Sein Bruder Nicolai und er hatten als Knaben von irgendeiner Dorffrau die Sage gehört, wo man Bäume pflanze, werde ein Ort des Glückes sein. So hatten sie halb im Spiel ein paar Schösslinge eingesetzt. Erst später entsann sich der alte Mann dieser wunderbaren Verheißung und äußerte sofort den Wunsch, unter jenen selbstgepflanzten Bäumen begraben zu werden. Das ist geschehen, ganz nach seinem Willen, und es ward das eindrucksvollste Grab der Welt durch seine herzbezwingende Schlichtheit. Ein kleiner rechteckiger Hügel mitten im Wald von Bäumen überblüht – nulla crux, nulla corona! kein Kreuz, kein Grabstein, keine Inschrift. Namenlos ist der große Mann begraben, der wie kein anderer an seinem Namen und seinem Ruhm litt, genau wie ein zufällig aufgefundener Landstreicher, wie ein unbekannter Soldat. Niemandem bleibt es verwehrt, an seine letzte Ruhestätte zu treten; der dünne Bretterzaun ringsherum ist nicht verschlossen. Nichts behütet die letzte Ruhe des Ruhelosen als die Ehrfurcht der Menschen. Während sich sonst Neugier um den Prunk eines Grabes drängt, bannt hier die zwingende Einfachheit jede Schaulust. Wind rauscht wie Gottes Wort über das Grab des Namenlosen, sonst keine Stimme, man könnte daran vorbeigehen, ohne mehr zu wissen, als dass hier irgendeiner begraben liegt, irgendein russischer Mensch in der russischen Erde. Nicht Napoleons Krypta unter dem Marmorbogen des Invalidendomes, nicht Goethes Sarg in der Fürstengruft, nicht jene Grabmäler in der Westminsterabtei erschüttern durch ihren Anblick so sehr wie dies herrlich schweigende, rührend namenlose Grab irgendwo im Walde, nur vom Wind umflüstert und selbst ohne Botschaft und Wort."