KAUB

Das Tor nach Frankreich

Wilhelm Camphausens Gemälde "Blüchers Rheinübergang bei Kaub" in der Parlamentarischen Gesellschaft im Berliner Regierungsviertel.

"Die Seelen der Gefallenen sind mir
wichtiger als die Siege."
S. D. Nikolaus Fürst Blücher
von Wahlstatt, 2016

Eine sternenklare Silvesternacht

Kraftvoll floss der eisige Rhein durch die hohen schneebedeckten Felsen der Talschlucht. Feldmarschall Blücher saß, gefolgt von seinem Generalstab, auf dem Rücken seines Schimmels und blickte in die Dunkelheit zum jenseitigen Ufer des Stroms. Dort lag das Reich Napoleons, der vor wenigen Monaten noch über halb Europa geherrscht hatte. Nach der verheerenden Niederlage in Russland hatte sich halb Europa in der Sechsten Koalition erneut gegen Napoleon verbündet, und die Alliierten standen nach der erst einige Wochen zurückliegenden Völkerschlacht von Leipzig vor der "natürlichen Grenze Frankreichs" – dem Rhein.
Die Nacht war so kalt, dass sich der Atem von Mensch und Tier mit den Nebelschwaden vermischte. Mehr als 54.000 preußische und russische Soldaten der Schlesischen Armee samt 15.000 Mann Kavallerie standen in dem kleinen Ort Kaub sowie der dahinter liegenden Schlucht bereit, den breiten Fluss zu überqueren und den Krieg nach Frankreich zu tragen. Drohend richtete eine schwere Zwölfpfünderbatterie ihre Rohre von der hoch gelegenen Burg Gutenfels auf das linke Rheinufer, vier weitere Kanonen standen beim Dicken Turm feuerbereit.
Nach dem Studium der Karten des Mittelrheins war Kaub von dem 71-jährigen Blücher als Stelle des Übergangs bewusst gewählt worden: Auf der Höhe des Ortes liegt eine kleine Rheininsel mit der Zollburg Pfalzgrafenstein – der ideale Stützpunkt für den Brückenschlag, da an dieser Stelle nur 315 Meter Wasser zu überwinden waren.
Bevor man jedoch daran denken konnte, einen Übergang über den mächtigen Grenzstrom zu schlagen, musste ein Brückenkopf auf dem französischen Ufer errichtet werden. Über die Vorbereitungen hierzu berichtete ein freiwilliger preußischer Infanteriesoldat: "(...) noch vor Mitternacht versammelte uns der General (...) bei genanntem Städtchen [Kaub]. Wir gingen ganz still den Rhein entlang. Tabakrauchen, Husten und Sprechen sowie alles Geräusch mit den Gewehren war streng ver­boten!"
Am Abend wurden die Kauber Schiffer in der kleinen, reformierten Kirche versammelt und bei Androhung der Todesstrafe verpflichtet, die Voraustruppen in der Nacht in ihren Booten überzusetzen. Kein Schiffer durfte anschließend die Kirche verlassen, da man einen möglichen Verrat verhindern wollte. Förderlich für das überaus riskante Unternehmen war, dass der gefürchtete Eisgang erst acht Tage später einsetzte und die Schiffer mit der gefährlichen Strömung des Rheins bestens vertraut waren: Der Lotsendienst war seit Jahrhunderten einer der Hauptbeschäftigungszweige der Kauber Männer.

Auf dem Rhein

Nachts um halb drei bestiegen in aller Stille 220 preußische Soldaten gegenüber des Gasthauses "Stadt Heidelberg" die bereitstehenden Kähne. Fast lautlos legten die Ankernachen ab und bewegten sich leise plätschernd in dem dunklen Strom, aus dem dichter Nebel emporstieg. Sicher gelenkt von den erfahrenen Schiffern waren die Boote rund fünfzehn Minuten auf dem eiskalten Wasser und passierten vollkommen geräuschlos die nördliche Spitze der Insel Pfalz. "Es blieb wohl keiner von uns gleichgültig", erinnerte sich ein brandenburgischer Soldat, "als wir jetzt die Grenze des Vaterlandes überschritten. Die Nacht war kalt und sternenklar (...). Kein Schuss fiel, und es blieb alles still, bis auf das leise Plätschern der Ruder. Aber unsere Herzen klopften."

Fast auf den Tag genau 200 Jahre später sitze ich an Bord einer Fähre auf dem Rhein in Richtung Pfalzgrafenstein an der Seite Nikolaus Fürst Blüchers von Wahlstatt, des Urururenkels des preußischen Feldmarschalls. Bemerkenswerterweise kreist das Gespräch zeitweise weniger um die geschichtliche Bedeutung der Rheinüberquerung denn um Transzendentale Meditation und Maharishi Mahesh Yogi, bei dem der Fürst in Indien in den 1960er Jahren Schüler war. "Waren da nicht auch die Beatles?" "Ach ja, die Beatles, ja", antwortet der Fürst beiläufig, "die saßen oft mit uns auf der Matte. George Harrison war der Fleißigste."
Es ist ungemein faszinierend, dass dieser fast 85-jährige Mann, der mir gegenüber sitzt, offenbar das genaue Gegenteil seines grobschlächtigen Vorfahren ist, der sein Leben lang Krieg geführt hat. "Wir sollten unsere Vorfahren und ihre Leistungen nicht verleugnen. Wir sollten aber vor allem wissen, dass diese Art und Weise und diese Zeit, sich gegenseitig umzubringen, hoffentlich für immer vorbei ist." Während der Fürst von den Lehren Maharishis berichtet und davon, wie John Lennon nachts manchmal aufstand und ihm dabei Hunderte Ideen zu einigen seiner besten Songs kamen, die er dann auch gleich aufschrieb, erheben sich im Durchbruchstal des Rheins nach Westen die mehr als 200 Meter steil ansteigenden Felsen des Hunsrück. Auch die 220 preußischen Soldaten schauten in jener schicksalshaften Silvesternacht auf diese malerische Felsformation.