WATERLOO

Götterdämmerung

Victor Hugo in Hougoumont

Mehr als 200 Jahre alte Kastanien vor den südlichen Mauern Hougoumonts
mit zahlreichen Einschusslöchern der Schlacht. "An einem schönen Maimorgen des Jahres 1861 kam ein Wanderer von Nivelles und schlug den Weg nach La Hulpe ein. Er ging zu Fuß und folgte zwischen einer doppelten Baumreihe einer breiten, gepflasterten Chaussee, die sich in einer Wellenlinie von einem Hügel zum anderen zieht. Die Hügel reihen sich aneinander, lassen die Straße steigen und sinken und sind wie riesige Wogen (...). Seitwärts eines Ententeiches verlief ein schlecht gepflasterter Pfad, den der Wanderer betrat. Nachdem er dort eine Weile lang an einer spitzgiebeligen Mauer aus dem 15. Jahrhundert entlang gegangen war, sah er ein großes gewölbtes Tor (...). Auf der Wiese, die vor dem Tor lag, lagen drei Eggen, durch deren Öffnungen verschiedene Maiblumen hindurchgewachsen waren. Die Sonne leuchtete zauberhaft (...). Inbrünstig sang ein kleiner Vogel, der wohl verliebt war, in einem großen Baum. Der Wanderer bückte sich und betrachtete im unteren Steinpfeiler des Tores eine ziemlich breite, kreisförmige Aushöhlung ähnlich dem leeren Raum einer Himmelskuppe. In diesem Augenblick öffnete sich der Torflügel und eine Bäuerin trat heraus. Sie erblickte den Wanderer und bemerkte: 'Das Loch hat eine französische Kanonenkugel geschossen', (...). 'Wie heißt der Ort?' 'Hougoumont', sagte die Bäuerin."
Jener Wanderer, der hier von sich selbst in der dritten Person schreibt, war Victor Hugo. Der Dichter, dessen Vater von Napoleon in den Grafenstand erhoben und General in der Grande Armée war, besuchte das Schlachtfeld zwischen den Jahren 1837 und 1861 dreimal und vollendete hier seinen Romanepos "Die Elenden", in dem die beschriebene Stelle vorkommt. Zum Andenken des Schriftstellers wurde im 20. Jahrhundert südlich von Belle Alliance eine Säule errichtet, die, so Camille Le Senne, "die Erwiderung der Poesie auf den groben Mut" versinnbildlicht.
46 Jahre bevor Victor Hugo am südlichen Schlosstor Hougoumonts stand, tobte hier eine erbitterte "Schlacht in der Schlacht". Napoleons jüngster Bruder Jérôme hatte kurz vor Mittag die Kämpfe mit einem Angriff auf das schlossähnliche Anwesen eröffnet. Mit aufgepflanztem Bajonett durchquerten die französischen Soldaten den Wald südlich des Schlossgutes, der aus alten knorrigen Eichen und Kastanien bestand.
Im Wald befanden sich rund 600 Nassauer Schützen der Armee Wellingtons, die den Angreifern ein verlustreiches Gewehrfeuer entgegensetzten und sich dann hinter die schützenden Mauern zurückzogen. Als die Angreifer aus dem Waldrand drangen, befand sich ein etwa 30 Meter breiter Streifen Wiese zwischen ihnen und der rund 200 Meter langen Gartenmauer Hougoumonts. Gewehrläufe ragten aus den Schießscharten der Mauer. "Wir hatten eben unsere Stellung an den Schießscharten eingenommen", so der Nassauer Schütze Johann Leonhard, "als Massen von Franzosen aus dem Wald drangen (...). Ein Kugelhagel, den wir abgaben, war so schrecklich, dass das Gras vor uns schon bald mit französischen Leichen bedeckt war."

Wie stumme Mahnmale der Schlacht sind in den Mauern des Obstgartens bis auf den heutigen Tag einige der Schießscharten zu sehen. Englische Soldaten hatten sie auf persönlichen Befehl Wellingtons in der Nacht vor der Schlacht in die Mauer gebrochen. Aus diesen Löchern sowie den Fenstern des Schlosses schlug den Franzosen über neun Stunden lang tödliches Gewehrfeuer entgegen. An den Anblick des Obstgartens nach der Schlacht erinnerte sich der englische Offizier Gronow: "Die abgebrochenen Zweige der (...) Bäume hingen um die Baumstämme und waren derart durchlöchert, dass man annehmen möchte, sie hätten sich in verkümmerte Trauerweiden verwandelt, die gebrochenen, durchlöcherten Bäume erinnerten an den unaufhörlichen Kugelhagel." Der Eichenwald südlich von Hougoument war nach der Schlacht so vollkommen von Geschossen verwüstet, dass der Besitzer ihn abholzen lassen musste. Heute befinden sich dort Nutzfelder.
Nach einem gewaltigen Frühlingsgewitter im April 2017 stehe ich vor dem südlichen Schlosstor Hougoumonts an jener Stelle, an der einst Victor Hugo gestanden hatte. Tiefgraue Wolken türmen sich über drei einsame, große Kastanien hinter dem Anwesen. Die Baumriesen sind alles, was von dem einstigen, stolzen Wald erhalten blieb. In ihren abgestorbenen, riesenhaften Stämmen hat sich wie Boten aus dem Jenseits eine Schar Raben niedergelassen.